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München ist ein Dorf

Stellt euch vor, ihr seid ein Stadtmensch. Vielleicht müsste ihr euch das auch gar nicht vorstellen. Aber ich versuche mal, präziser zu sein: Stellt euch vor, in eurer Stadt gibt es ein Viertel,in dem ihr echt lange gelebt habt. Als Student irgendwann hingezogen, verliebt, verlobt, zusammengezogen, Kinder. Das erste Jahr mit Baby. Und dann stellt ihr fest, dass ihr noch an keinem Ort zuvor so lange gelebt habt wie dort. In jenem Viertel.

Mir geht es so. Ich habe die größte Zeit meines bisherigen Lebens im Münchner Westend verbracht.

Dann bin ich verschwunden. Aufs Land verzogen.

Nach genau einem Jahr bin ich zum Sommerfest-Picknick unserer ehemaligen Krippe wieder dahin zurück gekommen. Ich war neugierig, wie die Kinder auf ihre alte Heimat reagieren. Ob ihnen bestimmte Menschen, Kinder und Plätze noch was sagen.

Schließlich war unser Leben doch anders hier als auf dem Land. Wir sind die meiste Zeit mit dem Fahrrad herumgefahren und nicht mit dem Auto. Wir hatten unsere Crew am Spielplatz getroffen und haben erst gegen 4 Uhr nachmittag überlegt, was wir denn zum Abendessen machen. Dann sind wir noch schnell zum Türken was einkaufen gegangen. Oder zum Griechen. Oder zum Edeka. Oder zum Aldi.

Mein erster Weg führte mich zur San Francisco coffee company. Die Jungs wollten Babycappuccino – ok, sie erinnern sich doch. Bisschen nostalgisch war ich da. Habe ich mich dort oft mit meiner Freundin getroffen. Die ist inzwischen auch weg.

München is a Dorf Kaffeelove

Und während wir da so draußen sitzen und ich irritiert bin, dass alles noch so aussieht, wie es mal war, treffe ich die erste Bekannte. Eine Frau, deren Namen ich nicht mehr weiß, aber die ich immer exakt an dieser Stelle traf. Sie wohnt ein Haus weiter und die Schneise hin mit dem San Francisco an der Ecke ist ihr Weg. Ich kreuze also nach einem Jahr wieder ihren Weg. Wir unterhalten uns kurz. Wie immer. Sie sagt, dass die anderen Zwillinge vom Viertel sich nachher im Biergarten treffen. Ich verspreche, vorbeizuschauen.

Ich weiß nicht, ob ich das so richtig wiedergebe, aber unser letztes Gespräch verlief ähnlich. Sie lehnte auf ihrem Fahrrad, ihre Kinder waren um sie herum und die Sonne schien. Alle unsere Gespräche verliefen so. Die Menschen gehen weiter ihren Weg. Ob du nun da bist oder nicht. Wären wir wieder hergezogen, dann hätte sich diese Bekanntschaft wieder nahtlos eingefügt. So, als ob wir nicht weg gewesen wären. So muss es sich anfühlen, in sein Dorf zurückzukehren. Alles auf Anfang. Alles wie immer.

Wir gehen weiter auf unseren alten Wegen. Manchmal hat sich ein Laden verändert, ist plötzlich aufgeploppt und wirkt für mich irgendwie unwirklich. Es gibt jetzt einen veganen Supermarkt mit Superfood und eine Salatbar-kette. Früher war an der Stelle ein Jogging-Laden. Man geht halt mit dem Trend. Das ist München.

Mein Sohn legt sich plötzlich auf den Boden. Er will nicht weiter. Ich verspreche ihm den Kuchen, den ich gemacht habe. Er mag nicht zum Picknick. Er mag nicht, dass er nicht weiß, was passiert und wen er trifft. Verdammtes Landei. Ich zweifle an der Idee und schupse ihn mit Worten liebevoll weiter. Für das letzte Stück brauchen wir eine gefühlte Ewigkeit, aber schließlich sitzen sie auf einer Decke am Rand der Feier und mampfen Kuchen. Unser Kuchen lockt die anderen Kinder an und es dauert nicht lange, da ist er mit der Situation doch einverstanden und verschwindet auf dem nahegelegenen Spielplatz.

Es ist so unglaublich voll hier. Ich bin unsicher, wie stark ich auf meine Kinder achten soll. ich habe vergessen, was so der Rahmen der Freiheit ist. Ich mein, der ganze verdammte Park ist voller Leuten. Waren hier immer so viele Leute? Habe ich meine Kinder hier früher so unbekümmert zwischen den ganzen Menschen herumlaufen lassen oder hab ich die dabei beobachtet? Ich weiß es nicht mehr.

Die Begrüßung mit den anderen Eltern verläuft herzlich. Die meisten Väter sitzen im Anzug oder schon im Freizeitdress auch mit auf den Decken rum. Ja, da ist normal hier. Moderne Elternschaft und so. Working parents, Kinderkrippe. Wo ich jetzt herkomme, taucht die Mehrzahl der Frauen alleine mit ihren Kindern auf. So wie ich heut. Ich war gar nicht auf die Idee gekommen, meinen Mann zu überreden mitzufahren. Wie schnell man sich an Geschlechterrollen gewöhnt. Man macht immer das, was die Mehrheit macht. Picknick am frühen Freitag Nachmittag? Frauensache. Die letzen Jahre waren wir hier zu zweit. Ich habe mich schneller ans Land angepasst, als ich dachte.

Eine Mutter bemerkt trocken, dass ich ganz schön bayerisch reden würd. Ich muss fast lachen. Dass muss ich meinen Landfrauen erzählen. Die kippen mir glatt vom Stuhl. Grad ich. Ich rede ein gepflegtes Münchner Hochdeutsch. Die müssten hier mal hören, wie es klingt, wenn man wirklich Dialekt spricht. Da ist das hier nicht mehr München, sondern Minga und kein Mensch würd glauben, dass man sich hier wie am Dorf vorkommen könnt.

Ich bemerke, dass es wenig zu essen gibt. Aprikosen, Reiswaffeln, jemand hat Pizza besorgt. Auch das ist normal hier. Meine Landfrauen haben mich stadttechnisch völlig ruiniert. Die würden einen Haufen Essen zu einem Picknick anschleppen – glaub ich zumindest. Ich habe auch Kuchen gemacht und habe belegte Brote dabei. Massenweise. Letztes Jahr ist mir das auch noch nicht passiert.

Die Details, die anders sind, sind nicht die Details, die ich so damals im Blick hatte. Die Leute verändern sich nirgends. Vielleicht sind neue Gesichter dazugekommen, aber wie man sich so verhält, was man so macht. Da gibt es überall Rhythmen, aus denen nicht ausgebrochen wird. Klar, die meisten Frauen arbeiten. Man tauscht sich schnell über Berufe und Perspektiven aus. Meine Landfrauen arbeiten auch, aber darüber wird nicht so viel gesprochen. Wer nicht arbeitet, der arbeitet auch nicht weniger. Der hat dann halt Hühner oder so. Die Männer sind auch hier selbstständig oder auch nicht. Aber der Beruf Schreiner kommt nicht vor. Die arbeiten hier in verenglischten Berufsbezeichnungen und sitzen im Büro. Aber tauchen zu großer Zahl an einem Freitag nachmittag beim Picknick auf.

Jetzt heulen meine Kinder fast, weil wir gehen. Sie wollen ihre alte Erzieherin am liebsten mitnehmen. Ich verspreche den Spielplatz am Biergarten. Das stimmt sie zumindest friedlich.

Es wuselt am Biergarten und doch finde ich meine Zwillingseltern wieder. Ein Dorf. Dieses Viertel ist ein Dorf und die Leute verlassen die Dorfgrenze nicht. Aus der Masse an Aktivitäten und Plänen, die eine ganze Stadt bietet, wählt man halt doch nur das, was im Viertel passiert. Da passiert ja auch genug. Keiner würde groß mit einem Auto rumfahren. Und fährt man mal mit der U-Bahn bis zum Marienplatz, dann sagen die hier: Wir sind in die Stadt gefahren und das ist als Ausflug zu werten. Der Radius auf dem Land ist viel weiter als in der Stadt. Da fährt man zu dem nächsten Dorf zwengs am Judounterricht und zum nächsten für die Milch. Das fällt einem erst auf, wenn man weg ist. Die Entfernungen schrumpfen. Meine Freundin hat mal gesagt, der Weg von der Stadt zum Land ist viel weiter als umgekehrt. Da hatte sie recht. Es ist kein großes Ding, mal ne Stunde wo hinzufahren, aber ich bin nie freiwillig weit aus dem Viertel rausgefahren, als ich noch hier lebte. Obwohl es kleiner war, war es groß genug.

Mein Sohn fällt von der Wippe und heult, es ist Zeit zu gehen. Die sind jetzt müde. Komisch, dass ich die Zeit überhaupt nicht im Blick hab. Ich muss doch noch weiter fahren und nicht bis um die Ecke. Ich bin deswegen aber überhaupt nicht nervös. Dann fahr ich halt noch.

Ich muss das Abschlusseis noch einlösen. Die Schlange ist mir zu lang am Biergarten und ich will zum Edeka. (Allein bei dem Gedanken, dass mir irgendwo zu viel los sein könnte, da muss ich schon innerlich grinsen)

Als wir den Biergarten verlassen, sagt eine Frau grad zu ihrer Tochter, sie solle zum X gehen. Mein Sohn horcht auf und sagt, er sei X. Sie lächelt und meint, dass ihr Sohn auch so heiße und sie den Bruder des Mädchens meinte. Mein Sohn sagt, sein Bruder heiße Y. Da bleibt die Frau stehen und lächelt diesmal mich an. Ihr Sohn heiße XY. Da grinse ich auch. Wir erinnern uns beide an ein lustige Gespräch vor Jahren vor dem Italiener im Viertel. Da haben wir nämlich festgestellt, dass sie ihren Sohn XY genannt hat und ich meine Zwillinge X und Y. Und wir fanden es total witzig. Ein bisschen ist sie irritiert, mich zu treffen und dann geht sie wieder weiter.

Westend München

Beim Edeka, den ich echt in und auswendig kenne, fröstelt es mich dann doch. Wenn was total gleich aussieht. Und ich den Impuls unterdrücken muss, hier noch schnell was einzukaufen. Die Zeit schien eingefroren. Irgendwie bin ich auch stolz, dass ich so verwurzelt war. Dass ich ein Dorf hatte, in dem ich viele zu kennen schien. Es ist erst ein Jahr vergangen. Vergehen 10 Jahre, lehnt die Frau vielleicht nicht mehr an der einen Stelle an ihrem Fahrrad oder versammeln sich die üblichen Verdächtigen um den Spielplatz am Biergarten.

München ist nur die Imitation eines Dorfes. Für eine gewisse Zeit fühlt es sich wohl ähnlich an, aber die Besetzung wechselt schon schneller. Die meisten, denen ich begegnet bin, sind hier nicht geboren worden und aufgewachsen. Wir kennen uns nicht aus Schulzeiten und es tauchen bei jedem Lebensabschnitt nicht immer wieder die gleichen 5 Hanseln auf. Aber ist man in einem bestimmtem Lebensabschnitt, dann kommt man auch nicht voran ohne einen Ratsch an der Ecke. Ich habe ein paar Leute zu uns eingeladen. Vielleicht verlassen sie für uns doch mal das Viertel. Für einen Kaffee am Land.

 

4 Comments

  • Larissa//No Robots Magazine
    31. Juli 2016 at 11:29

    Hach, ich wollte das Viertel auch nie verlassen. Es ist dich auch einfach zu schön. Ich werde schon immer ganz traurig, wenn ich vom Park nicht nur um die Ecke laufen muss. Auch wenn es jetzt auch nur 20 Minuten zu Fuß sind.
    Mir fällt gerade auf, dass ich mein ganzes Erwachsenenleben nie lange an einem Ort gelebt habe. Ich hatte in den letzten zehn Jahren sechs Postleitzahlen.

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    • fadenvogel
      31. Juli 2016 at 11:43

      Ich habe dort über 10 Jahre gelebt. Ich bin aber nicht traurig, dort weggezogen zu sein. Ich mag es hier am Land schon gerne. Auch wenn ich hier nicht mehr aus München bin, sondern aus Minga. Und klar, ich werde immer die Geschichten aus dem Westend mit mir herumtragen. Ich komme halt von dort. Zwischen Oktoberfest und veganem Supermarkt. Ich kann auch vagane Kuchen backen. Ob ich diese Fähigkeit hier je brauche, dort, wo man Hühnereier am Bauernhof kauft – weiß ich auch nicht.

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  • *thea
    31. Juli 2016 at 16:21

    Immer interessant deine Beobachtungen, weil ich auch öfter die beiden Leben vergleiche, das Landleben und das München-Leben. Auch wenn es bei mir ja andersrum ist und ich erst auf dem Dorf war und dann in der Stadt und andere Dinge erlebe, als du als Mama. Aber das mit den Entferungen kann ich so bestätigen – und manchmal ist es auch andersrum: Das nächste Klein-Städtchen in meiner Heimat ist 8km von meinem Dorf entfernt. Abgesehen man sieht es als Ausflug wäre ich früher da nie hingeradelt, wenn ich dort verabredet war oder was eredigen wollte. Wenn ich jetzt was in Schwabing machen will, nehme ich eigentlich immer das Rad, wenn es trocken ist – und das sind ungefähr auch 8 Kilometer…

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  • Pamela
    1. August 2016 at 22:53

    Hihi, die Sache mit deinem Bayrisch ist mir auch schon aufgefallen ;-). Und weißt du noch, wie ich von München wieder zurück in mein Dorf gezogen bin, da hast du nach ein paar Wochen zu mir gesagt, mein Dialekt hätte sich aber schon verstärkt … Man passt sich eben an ;-).

    Nachdem ich schon mehrmals meinen Wohnort vom Land in die Stadt und wieder zurück verlagert hab, kann ich nur bestätigen, dass der Umkreis, den ich mein Revier nenne beim Landleben größer ist. Ich würde sagen, alles im Radius von ca. 30 km gehört dazu.

    Das ist irgendwie in frühster Kindheit schon losgegangen, mangels Kindergarten haben mich meine Eltern ins 8 km entfernte Nachbardorf gekarrt. Die Grundschule war hier die weiterführende Schule dort ….

    Dass ein Landkind 20 km einfach zur Schule fährt ist nicht ungewöhnlich. Die Berufsausbildung absolviert man dann wieder in einem anderen Ort …

    Außerdem fährt das Landei mangels Geschäften vor Ort oft mal für den Großeinkauf in die Ortschaft A, die neuen Kinderschuhe müssen in B besorgt werden und der Zahnarzt befindet sich in C.

    Und all diese Orte werden zu deinem Revier, du fährst 20 km um ins Kino zu gehen und der Münchner hält es schon für grenzwertig dafür von Sendling nach Schwabing zu fahren ;-).

    Die Sache, dass es sich in der Stadt leichter radelt, kann ich auch bestätigen. Als ich vom Land in die Stadt kam, hab ich angefangen alles mit dem Rad zu erledigen. Lustigerweise habe ich dafür nicht länger gebraucht als mit dem Auto. Mir kam es damals paradox vor, weil ich bis dato die Fortbewegung per Rad eher als typisch „Land“ eingestuft hatte und ich mir das Radeln in der Stadt aufgrund des Verkehrsaufkommens als nervige Angelegenheit vorgestellt hatte (ich kannte damals die tollen Rad- und Schleichwege Münchens noch nicht) … Dann bin ich zurück aufs Land gezogen, mit der festen Überzeugung weiter zu radeln, ich wollte sämtliche Erledigungen um Umkreis vom 10 km mit der Fahrrad erledigen …. Keine Chance, es klappt nicht !!! … Hauptgründe dafür sind sicher der Verkehr auf der Landstraße, wo die Autos mit 100 kmh an einem vorbei brausen und dass man mit dem Auto einfach viel schneller ist … Jetzt wird nur noch an den See geradelt oder als Sportprogramm den Berg hoch 😉

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