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Märchen für Kinder?



Sollte man dennoch einzuwenden haben, dass Eltern eins oder das andere in Verlegenheit setze und ihnen anstößig vorkomme [...] Oder auch, Regen und Tau fällt als eine Wohltat für alles herab, was auf der Erde steht, wer seine Pflanzen nicht hereinzustellen getraut, weil sie zu empfindlich sind und Schaden nehmen könnten, sondern sie lieber in der Stube mit abgeschreckten Wasser begießt, wird doch nicht verlangen, dass Regen und Tau ausbleiben sollen.“

– GEBRÜDER GRIMM IN IHRER VORREDE ZU DEN KINDER - UND HAUSMÄRCHEN 1819

Märchen sind erzählte Geschichten, losgelöst von einem bestimmten Zeitpunkt oder Ort. Ihre handelnden Figuren sind allgemein, unpersönlich und lassen sich in stereotype Kategorien einordnen – gut, böse, schön, hässlich, reich, arm. Die Handlung ist oft begleitet von Gewalt, denn manchmal wird man zur Strafe von einem Riesen gefressen. Und dennoch gibt es Märchen seit Jahrhunderten. Selbst als die großen Märchensammler (wie die Gebrüder Grimm) die Märchen aufschrieben, waren die Geschichten alt. Besonders bezeichnend finde ich, dass die Märchenkritik auch vor 200 Jahren wohl präsent war. Wahrscheinlich waren die Unzufriedenheiten damals anders als heute, aber Kritik gab es dennoch. Im Vorwort der Kinder-und Hausmärchen aus dem Jahre 1819liest man die barsche Antwort der Herausgeber an die Eltern:

Traut euren Kindern was zu!

Was sollen wir unseren Kinder eigentlich zutrauen? Spricht man von Märchen, so fallen einem Dornröschen, Frau Holle, Rotkäppchen und eben jener oft neu illustrierter Kanon ein. Dabei sind diese bekannten Märchen nur ein Bruchteil der überlieferten Geschichten und die Kritik daran weitet sich dann allgemeingültig auf alle Märchen aus. Vielleicht haben es diese Märchen in das gesellschaftliche Gedächtnis geschafft, weil die damalige Kritik an Märchen eben jene Märchen ausgewählt hat, die am besten zu den Erziehungszielen passten. Nehmen wir Frau Holle als Beispiel. Ein Mädchen hilft fleißig im Haushalt und wird mit Gold belohnt – ein anderes Mädchen ist faul und rührt keinen Finger und wird mit Pech überschüttet. Jene, die selbstlos hilft – explizit bei der Hausarbeit – ist die strahlende Figur und manche werden jetzt seufzten und einwenden: Genau das sollten eben nicht unseren Kindern als Rollenbeispiel erzählen. Ja, das hat sich verändert. Von damals nach heute.

Was sollen den schlafenden, schwachen Prinzessinnen heute noch für eine Botschaft haben? Diese überholten Klischees sollen doch nicht immer wieder in die Ohren unserer Kinder geträufelt werden.

Der Vorteil an Märchen ist aber, dass ihre Anzahl gewaltig ist. Wie wenige Märchen ich selbst kenne, wurde mir bewusst, als mein Mann sich in seinem Studium mit Volkskunde beschäftigte und begeistert von singenden Knochen als übriggebliebene Anteile von Mystik und Schamanismus berichtete.

Jetzt macht sich da neben den Klischeebilder gleich die nächste große Baustelle von Märchen auf: die Grausamkeit. Immer wieder trifft man auf verschlüsselte Berichte zu Vergewaltigungen (der Kopf des Drachen legt sich auf den Schoß der Mädchen…), Inzest ( Allerleirauh flieht vor ihrem Vater, der sie heiraten will) und nicht zuletzt die Kinder, die von ihren Eltern verlassen werden und im Wald eine Hexe im Ofen verbrennen lassen. (Hänsel und Gretel)

Toll. Märchen sind also keine Kuschelliteratur, über die man nicht nachdenken sollte. Was für ein Potential haben sie dann?

Zunächst einmal spiegeln sie eine reale Welt.

In ihnen gibt es Neid, Ungerechtigkeit und Herausforderung. Man könnte heulen. Genau das ist es ja, mit denen Menschen in ihren Beziehungen zu tun haben. Wir alle mögen nicht, wenn wir neidisch sind. Das ist ein scheußliches Gefühl. Wir mögen es lieber, wenn wir einander Dinge gönnen. Tun wir aber nicht immer. Und ist es nicht viel gesünder, sich selbst und seine schlechten Seiten zu kennen und mit ihnen leben zu lernen als sie zu ignorieren.

In ihnen gibt es Strafen und Belohnungen und zwar nicht in der Form, wie wir sie kennen: in der Gerichtsbarkeit. In Märchen werden die Figuren bestraft ohne Anklage und Verfahren – manchmal wird ihr Fehler noch nicht mal öffentlich aufgedeckt. Das Leben bestraft oder belohnt die Figuren nach ihrem Verhalten. Was für ein beruhigender Gedanke, dass sich Karma darum kümmert.

Tatsächlich finde ich die immer neu herausgegebenen Märchenbücher mit schönen Illustrationen zunehmend schwierig – und zwar aufgrund ihrer sich wiederholender Auswahl. Vielleicht muss man diese Auswahl überdenken und sich für unsere Zeit neu auf die Suche machen nach Märchen, die mehr zu sagen haben als die Aufgaben eines Dienstmädchens zu benennen.

Genau auf dieser Reise nach Märchen für Kinder befinde ich mich seit Anfang dieses Jahres. Wöchentlich bereite ich für eine Kindergruppe eine Märchenerzählung vor und finde es inzwischen so spannend, dass ich es hier aufschreiben möchte. Bleibt gespannt.

Märchenreihe

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