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Minimalismus leben – die ersten Schritte

Seit langem habe ich einen Traum. Eigentlich ist es ein Alptraum. Meine Wohnung brennt ab. Manchmal gehe ich in Gedanken durch, was dann alles verloren gehen würde. Am schlimmsten finde ich immer Zeugnisse und Papiere. Da stelle ich mir die Widerbeschaffung aufwendig vor, oder Karten: Bankkarten, Kreditkarten, Pässe. Dann kommen manchmal die Erinnerungskisten. Bilder, die noch undigital sind. Gegenstände von früher. Bücher, ich habe eine ganze Wand voller Bücher. Stoffe und Nähwerkzeug. Meine Kochbuchsammlung oder meine Nähbuchsammlung. Zwei Nähmaschinen, die DVDs. ich gehe meinen verbrannten Besitz durch und fühle mich nicht wie in einem Alptraum, sondern wie in einem Traum. Ein befreiendes Gefühl durchflutet mich bei dem Gedanken an den verbrannten Besitz.

Das war schon bei dem Weglassen von Fleisch, Milch und Eiern so. Die Bürde, nur eingeschränkt aus pflanzlichen Lebensmitteln wählen zu können, die sich manche vorstellen, ist eigentlich eine Befreiung: ich brauche nur sehr wenig Zeit, um mich auf eine Speisekarte zurechtzufinden. Es bedarf nur wenige Augenblicke der Wahl. Alle gesellschaftlichen Essensverpflichtungen, jeder matschiger Kinderkuchen, jede höfliche Geste ist weggewischt. Ich brauche das alles nicht mehr zu machen. Ich habe die omnipotente Ausrede: ich komme vom Planeten Vegan, ich esse eure Hühnersuppe nicht. Großartig.

Genauso Omnipotent wäre der Brand. Aller Besitz weg, aller Ballast verkohlt. Keinen Grund mehr, die ungelesenen Bücher aus Imagegründen im Regal stehen zu lassen, die drei Sets Handtücher zu behalten, weil sie ja noch gut sind und damit immer ungefähr 3 große und 3 kleine Handtücher in der Wohnung herumfliegen zu haben. Keinen Grund mehr für das Horten der Bettwäsche, die eh nur zwischen zwei Laken hin und hergewechselt wird. Seit Anfang des Jahres wasch und trockne ich meine Lieblingsbettwäsche eh immer am selben Tag. Es gibt nur noch Konsumleichen in meiner Wohnung.

Wieso horten wir Dinge? Ist das zutiefst menschlich, einen Gegenstand aufzuladen mit Erinnerung, Gott und Wert? Am Ende bleibt der Gegenstand ohne uns zurück. Soll er unsere Geschichte erzählen? Ist unsere Geschichte es wert, erzählt zu werden? Existiere ich nicht auch, auch wenn niemand mich kennt? Ich habe Geschichte studiert, einen Abschluss in Sozialpsychologie und verdiene jetzt mein Geld mit Buchhaltungen. Manchmal sage ich, ich bin Historikerin und manchmal sage ich, ich bin Buchhalterin. Die Reaktionen sind unterschiedlich. Ich werbe um mich, versuche mich ins rechte Licht zu setzen, habe Angst, man sieht mich nicht. Die Gegenstände um mich herum sollen das wortlos tun. Wortlos darauf hindeuten, dass ich eine längere Geschichte habe, dass ich an einer Zeremonie in Auschwitz teilgenommen habe, dass ich mich für mittelalterliche Geschichte interessiere und Osteuropa, dass ich nähe und kreativ bin, ich besitze Notenbücher. Viele Dinge benutze ich nicht mehr, ich lese keine Bücher mehr zur jüdischen Geschichte, ich habe eine Vereinszeitschrift fürs Nähen, die ich nur im Regal abstelle.

gestern habe ich die ersten beiden Regalbretter ausgeräumt und den ersten Karton für die Bücher zum Verschenken und die Bücher zum Verkaufen zusammengestellt. ich bekomme bei rebuy für die Werbung meiner Klugheit zwischen 0,15 € und 0,36 €. Es sticht bisschen im Herzen. Manche Bücher, die ich für eine Hochseltenheit halte, werden gar nicht angekauft. Ich habe eine Kiste zusammengetragen und habe sie heute zum Verschicken dabei. Einen Großteil werde ich vor unsere Türe stellen. Das ist in unserem Viertel so üblich. Diese Kisten sind in der Regel sehr schnell ausgeräumt. Ich betrachte die beiden leeren Regale und die Befreiung setzt ein. Ich habe vor sieben Jahren dieses Studium beendet. Es hat mich geprägt und ich bin bereit, mich mit den Dingen zu umgeben, die ich benutze, nicht mit denjenigen, die die besten Geschichten über mich erzählen können.

Die Wort dazu ist Minimalismus. Wenn man im Netz sucht, dann findet man Blogs zu diesem Thema. Lebensaufgabe Minimalismus. Ich sehe Bilder von Badezimmerregalen, die nur aus vier oder fünf Gegenständen bestehen. Ich benutze morgens auch nicht mehr. Ich habe alles im Backup. Backup ausgehen, Backup Feier, Backup keine Ahnung. Vielleicht bedeutet Minimalismus auch, dass man ohne andere Möglichkeit lebt und daher viele unsinnige Entscheidungen (welcher Lidstrich? welcher Badezusatz? Welches Handtuch?) gar nicht treffen muss, weil eh nur eines oder gar keines da ist.

Ich bin unterwegs.

2 Comments

  • Frau Krähe
    5. August 2014 at 06:03

    Oh, wie du mir aus der Seele sprichst! Zaghaft habe ich vor einigen Tagen mit dem Aussortieren begonnen. Es fällt mir schwer. Und doch, ich will nicht leben mit diesem alten, toten Zeug. Heute sind die ungelesen Bücher dran. Und morgen hoffentlich die, welche ich nie wieder lesen werde (besonders liebgewonnene oder prägende dürfen aber bleiben).
    Liebe Grüsse von einer Weggefährtin
    Martina

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    • fadenvogel
      5. August 2014 at 10:12

      Ja, Bücher fallen mir leicht und schwer zugleich. Leicht: es ist so ein einfaches Ding zu verkaufen. Handlich, sifft nicht, sieht gebraucht manchmal noch wertvoller aus, gibt nicht viele Dinge, die das von sich sagen können… gleichzeitig ist es aber auch schwierig, welche herzugeben, die auch die Aufgabe haben, eine Aussage über einen selber im Regal stehend zu machen…oder die man schlichtweg liebt.

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