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Auschwitz, die Fremdheit und unsere heutige Verantwortung

March of the living 2005Wer mit Auschwitz anfängt, der befindet sich eigentlich am Ende. Am Ende jeder Geschichte, denn noch nie und hoffentlich nie wieder hat ein staatliches System mit der Präzision von Auschwitz gefoltert, inhaftiert, gemordet und vernichtet.

Wer Auschwitz sagt, meint eigentlich das Vernichtungslager mit dem deutschen Namen des nahegelegenen Ortes – Auschwitz – Oswiecim.

Auschwitz ist ein Symbol.

Auschwitz ist auch ein Ort.

Zu diesem Ort kann man hinfahren. Er liegt in Karten verzeichnet. Von München aus ist er mit dem Auto in 8 oder 9 Stunden zu erreichen.

Im Jahr 2005, vor 10 Jahren also, bin ich selbst als Teil einer Studiengruppe bis nach Auschwitz gefahren. Über die Gedenkstätten Dachau, Buchenwald, Sobibor – Auschwitz…Birkenau.

March of the Living card 2005

2005 war das Jahr, in dem im Mai der March of the living das erste Mal deutsche nichtjüdische Teilnehmer aufgenommen hat. Dieser Marsch der Lebenden ist ein tatsächlicher Marsch im Gedenken an die Opfer der Shoa vom Konzentrationslager Auschwitz zum Vernichtungslager Birkenau, angeführt von Überlebenden des Konzentrationslagers. Es gibt viele israelische Fahnen, Ariel Sharon hat 2005 eine Rede dort gehalten.

March of the living 2005 - front

Ich habe Geschichte studiert und war während meines Studiums lange und viel mit den Tätern beschäftigt. Und lange und viel damit, wie die BRD mit ihnen umgegangen ist – am Küchentisch in der Familie oder vor Gericht.

March of the Living 2005 Israel

 

Ich sehe mir die alten Fotos dieser Reise durch. Ich kann mich gut an Auschwitz erinnern. Und an das, was dieser Ort mir beibrachte. Ein Detail. Eine Verbindung. Nach dem Besuch war mir klar, dass es alles Menschen waren. Opfer wie Täter. Es ist wirklich passiert, nicht losgelöst in einem Paralleluniversum, sondern von Menschen gemacht.

March of the living 2005 Arbeit macht frei

Wir sind lange mit dem Bus gefahren. Seit Tagen fahren wir Bus. Erst noch in Deutschland, aber bald verstehen wir kein Wort mehr. Ich verstehe kein Wort mehr. Ich sitze in Krakau in einem Café und lese die Speisekarte. Das heißt, ich starre sie lange an. Wir lachen. In anderen Ländern kann man wenigstens noch erahnen, welches Wort das Wort für „Fisch“ ist..oder „Fleisch“. Hier sind es nur noch Hieroglyphen. Ich deute auf irgendein Wort und warte, was der Kellner mir zu essen bringt. Es ist alles fremd. Wenn du die Worte an der Straße, in den Karten nicht mehr lesen kannst, dann hast du in dir das wirkliche Gefühl für Fremdheit.

Wir kommen nach Auschwitz. Viele Menschen sind dort. Die meisten sprechen hebräisch, polnisch, ein paar englische Wort fallen. Wir verhalten uns ruhig, es ist ein Ort für Ruhe. Das Tor ist gespenstig. Es ist wirklich da. Dieses Tor, das schon auf so vielen Bildern festgehalten wurde. Das Symbol, das jeder erkennt als Auschwitz. Das Ende der Zuggleise. Ich nehme es gar nicht wirklich wahr.

Die Gedenkstätte ist auch ein Museum. Ich gehe durch Räume mit Koffern, leeren Koffern aufeinander gestapelt. Ich gehe durch Räume mit Schuhen, Schuhen bis an die Decke. Ich gehe durch Räume, in denen hinter Glas Haare sind. Berge von Haaren. Haarzöpfen. Bereits grau vergilbt.

Ich fühle mich abgetrennt von der Welt, hier ist die Welt auch wirklich zu Ende. Ich bin nicht so vermessen, mich für eines der Opfer zu halten. Ich verstehe die Täter auch nicht. Jeder wie ein kleines Zahnrädchen im Terror.

Und nach diesen Tagen, in denen um mich herum nur fremde Worte waren, wo ich keine Strassennamen mehr lesen konnte, keine Speisekarte. Fremd in einem völlig fremden Land, sehe ich das erste Wort, dass ich lesen kann. Es lautet: D U S C H E

Es läuft mir kalt den Rücken runter. Zwischen all den Jugendlichen, die sich über Glaskästen beugen und Dokumente ansehen, sehe ich auf dieselben Dokumente herunter und kann alles lesen. Das ist meine Sprache.

Es ist wirklich passiert, nicht losgelöst in einem Paralleluniversum, sondern von Menschen gemacht. Menschen, die meine Sprache sprachen.

Aus diesem Detail habe ich mitgenommen, dass diese Täter nicht so weit weg von uns sind. Wir, die ihre Sprache sprechen. Wir, die wie aus demselben Land kommen, dieselben Lieder kennen. Wir sollten das wissen.

Es ist für den Menschen möglich, andere Menschen nicht mehr als Menschen zu erkennen. Es ist für Menschen möglich, Kinder nicht mehr als Kinder zu sehen. Der Mensch kann das. Er kann von Auschwitz nach Hause gehen und Abendessen kochen. Ohne mit der Wimper zu zucken. Es ist nicht sofort und auf gleich möglich für den Menschen, so zu sein. Aber nach einem gewissen Prozess durchaus.

Gerade deswegen ist es wichtig, das wir darauf achtgeben, auf die kleinen Anfänge der Entmenschlichung von anderen Menschen aufhören. Und dass vor allem bei den heutigen Kriegsbildern aus dem Fernsehen, bei all den Flüchtlingen in unseren Reihen, bei all dem Terrorgefahren, bei all den Pegida-Verwirrten. Gerade jetzt. Die Entmenschlichung ist möglich. Und sie darf nie wieder passieren. Das ist nicht selbstverständlich. Das ist meine Lehre aus Auschwitz. Die Verantwortung jenseits von Schuldfragen.

*Dieser Beitrag ist ein Teil der Blogparade, die von sarahmaria ins Leben gerufen wurde und das Ziel hat, sich den #youGeHa mit Blogs gegen Hass anzuschließen. 

8 Comments

  • Sarah Maria
    27. Januar 2015 at 15:33

    Danke für deinen Text. <3

    Als ich vor Jahren in Buchenwald war, überkam mich ein ganz ähnliches Gefühl des Schwindels und abgetrennt-sein von der Welt. Dass sie an dem Ort zu Ende ist. Zeit, Raum und Zukunft aufhören eine Bedeutung zu haben. Ich weiß noch, dass die Bilder wie in einem Film an mir vorbei gerauscht sind. Dass ich nicht mehr in der Lage war, sie als real und direkt vor mir zu begreifen, weil es einfach so unfassbar schlimm war.

    Die Erkenntnis, dass es Menschen aus unserer unmittelbaren Vergangenheit waren, die das gemacht haben – und keine namenlosen Zomies – ist wirklich nicht einfach für sich selbst greifbar zu machen.

    "Gerade deswegen ist es wichtig, das wir darauf achtgeben, auf die kleinen Anfänge der Entmenschlichung von anderen Menschen aufhören." Diesen Satz finde ich großartig. Da steckt so viel Wahrheit und Handlungsspielraum drin. <3

    Liebe Grüße,
    Sarah

    Reply
  • Katie (Frau Margarete)
    27. Januar 2015 at 15:38

    Ein sehr starker, nahe gehender Beitrag, der mich sehr berührt hat.

    Reply
  • H.
    27. Januar 2015 at 19:41

    hat mich sehr berührt.

    Reply
  • Larissa//No Robots Magazine
    29. Januar 2015 at 10:54

    Wie immer hast du das sehr schön geschrieben. Ich finde es sehr wichtig, zu verstehen, dass weder Hitler noch andere Nazi-Größen oder -Gefolgsleute Dämonen waren, sondern im Endeffekt total normale Menschen. Menschen, die vielleicht verunsichert waren. So wie viele, die heute gegen Muslime auf die Straße gehen. Aber wo ist die Grenze zwischen Verunsicherung und grenzenlosem Hass oder tödliche Ignoranz?

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  • machenstattreden
    1. Februar 2015 at 11:47

    Gerade gestern sind wir darauf zu sprechen gekommen. Ich war noch nie da. Aber dein Text berührt und lässt mich erneut darüber nachdenken.

    Liebe Grüße.
    Juliane

    Reply
  • Ann-Bettina
    9. Februar 2015 at 22:31

    Hallo Fadenvogel,
    ein sehr einfühlsamer, berührender Text. Deine Schlussfolgerung ist vollkommen richtig: Wehret den Anfängen. Das waren genau meine Gedanken, als ich die ersten Bilder der ***gida-Aufmärsche gesehen habe. Nein, bitte ,nicht schon wieder.
    LG
    Ann-Bettina

    Reply
  • Frank
    12. Februar 2015 at 17:00

    Ein wirklich ergreifender Text.
    Danke dafür

    Reply
  • Evanesca Feuerblut
    2. März 2015 at 18:39

    Entmenschlichung ist, rein zufällig, genau das Wort, das ich gewählt habe, als ich (unveröffentlicht, nur für mich, weil zu schmerzlich für die Öffentlichkeit) von dem Beginn der Gräuel in der Ukraine geschrieben habe – konkreter von den Gräueln in meiner eigenen Heimatstadt.
    Dein Text ging mir sehr nahe – und er beweist große Stärke.
    Nein, wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen irgendwo nicht mehr als Menschen gesehen werden. Da sind wir alle verantwortlich.

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