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Samstagskaffee mit Zucker oder: der neuste Schrei ist zuckerfrei

Ernährung ist ja in unseren Tagen eher eine spirituelle Frage. Sinnsuche im Bodymassindex. Da reicht es einfach nicht mehr, Freitags halt Fisch zu essen, um religiös zu wirken. Da muss schon mehr her für das innere Chi. Chia-Samen zum Beispiel oder Tofuwurst.

Ja, ich beschäftige mich gerne mit den neuen Göttern der Ernährung. Vor ein Paar Jahren war *Vegan* das neue Vegetarisch. Als ich als Teenager in einer katholischen Schulmensa zu Mittag gegessen habe und alle Formen des Fertigpuddings bis hin zum Mangogeschmack kennen lernen durfte, da hat ein Mädchen verlangt, ab jetzt vegetarisch essen zu dürfen. Es war ein Riesenthema. Vegetarisch! So eine Rebellin! Was ist mit dem Freitags-Fisch? Und geht jetzt Hühnchen noch? Die Schülerinnen durften darüber abstimmen, ob die Schulmensa ihr eine vegetarische Variante des Mittagessens ausgeben durfte oder nicht. Ich stimmte dagegen. Aber mehr aus persönlichen Gründen als aus politischen: ich galt als ihre beste Freundin und Schwester Lioba vermutete, dass ich zu abhängig von ihr war. Indem ich dagegen stimmte, wollte ich der Schwester zeigen, dass ich nicht so unter der Fuchtel stand  wie sie meinte. (Mein Sohn hat jetzt übrigens das gleiche Thema. Er wird immer als derjenige wahrgenommen, das unter der Fuchtel seines Zwillingsbruders steht. Aber so wenig wie ich damals, so wenig ist er es heute: kopflos.) 

Gut, ich würde mich mal interessieren, was man heute für Rebellenernährungen durchziehen könnte als knapp 12Jährige: Vegan? Paleo? Oder der neuste Schrei: Zuckerfrei.

Anastasia Zampunidis hat ein Buch darüber geschrieben. eine Mischung aus Biographie und Ernährungsberatung. Ihre Geschichte mit dem Zucker.

Anastasia wer? Ja, meine Generation kennt die Frau schon. Sie war Moderatorin bei MTV und mir kam sie aber auch nur vage bekannt vor. Ich kannte sie nicht wirklich, aber ich hab das Gesicht schon irgendwo mal gesehen. Sie ist 15 Jahre älter als ich, hatte also eine Karriere als ich anfing, dieses Wort schreiben zu lernen. Irgendwie habe ich sie bestimmt in der einen oder anderen Sendung wahrgenommen.

Ich habe angefangen, ihr Buch zu lesen. Das fällt mir bisschen schwer, weil ich diese Art von Lebensberatung trifft F-Prominenz nicht besonders gerne habe. Aber diese kinderlose Frau mit einem Jetset-Job ist genau das, was mir im Moment gefehlt hat. Sie kommt von einem anderen Stern. Ich kenne diese Frauen nicht, ich treffe sie nicht in meinem Alltag und ich vermisse sie auch nicht, aber ich bin froh, dass es sie gibt. Liga Beyonce-Frauen: Girls, we rule this world. Und so weiter und so fort. Frauen mit handelsüblichen Karrieren: Damen hoch.

Gut, Anastasia hat den Zucker für sich entdeckt. Sie hält ihn für reines Gift und nennt ihn im gleichen Atemzug wie Koks. In ihrer zuckerfreien Ernährung geht sie sehr sehr weit: bis in die traditionelle chinesische Medizin hinein und sie beschäftigt sich mit ihrem Chi und mit veganer Ernährung und mit der Fünf-Elemente-Küche. das Chi muss fließen, das ist uns allen klar.

Nur wie wir es zum Fließen bringen, das ist schwierig und sie räumt ein, dass man in Kantinen und bei Backstage-Catering  selten zuckerlose Gerichte findet. Das finde ich süß. (An dieser Stelle sei auf das Buch verwiesen, dass auch irgendwo auf unsere Sprache eingeht und sagt, dass man *süß* immer mit positiven Eigenschaften verbindet und wie falsch das doch wäre.) ich finde es süß, weil ich vor 10 Jahren das letzte Mal in einer Kantine gegessen habe und ich noch nie ein Backstage-Catering gesehen habe, aber ich habe auch ein anderes Leben geführt. Vielleicht fällt es mir leichter, Zucker aus meiner Ernährung herauszulassen, vielleicht fällt es mir schwerer. Vielleicht hat Anastasia auch keine Ahnung, dass es tatsächlich Leben gibt, die mit Kantinen nichts zu tun haben. Oder mit Restaurants.

Manches aus dem Buch hat mich aber doch zum Nachdenken gebracht. Zum Beispiel, dass es wirklich immer in Ordnung ist, einem anderen zum Geschenk ein bisschen Zucker mitzubringen. In Form von Pralinen oder von Gummibärchen. Zucker geht immer, in allen Generationen.

Oder dass man Kinder gerne mit Zucker belohnt oder bestraft. Meine innere Mutter schreit da natürlich auf und sagt: Niemals, das tue ich nicht. Und dann tue ich es doch. Bei uns gibt es Nachspeise und das ist eigentlich immer so Zucker pur: gefroren oder in Gelatine oder so. Und wenn jemand sich nicht an die Regeln hält, dann sag ich schon: Dann ist halt deine Nachspeise gestrichen. Und ich streiche die sehr gerne. Ist so schön effektiv, weil die kleinen neuen Zuckersüchtlinge natürlich dann sofort spuren.

Ich schaue also von meinem Buch hoch und sage meinen Kindern so nebenbei mal beim Frühstück: Bei uns gibt es jetzt nur noch sonntags Nachspeise. 

Im ersten Moment dachte ich, jetzt bricht der Sturm los. aber meine Kinder haben nur gefragt (weil sie eben eine Bestrafung witterten:) Wieso?

Dank dem Kindergarten und bestimmten Vorwissen habe ich nur geantwortet, dass zuviel Zucker ungesund sei. Ah, ungesund. ja, damit können sie was anfangen. Und sie zuckten mit den Schultern und sagten : Okay.

Okay, echt? Ich entziehe euch das Nachmittags-Eis und dann krieg ich nur ein: Okay?

Aber es ist seit zwei Wochen wirklich nur ein Okay gewesen.

In der ersten Woche kam dann eine kleine Delegation in die Küche und hat nochmal diplomatisch nachverhandelt: Ist jetzt Süß an sich ungesund oder nur Zucker? Das fand ich sehr interessant. Sie machen da schon Unterschiede und sehen ein, dass Äpfel an Bäumen wachsen aber Marshmallows halt nicht. Und das das schon was mit gesund und ungesund zu tun hat: ob es an einem Baum hängt oder nicht.

Sie wollten dann an meinen persönlichen Vorrat Trockenobst und Nüssen, haben alles durchprobiert und verlangen jetzt Datteln, weil se Datteln und Cashewnüsse mögen, aber keine Walnüsse und so schaue ich erstaunt auf meine Kinder, die sich echt gut anpassen können. Und dann halt Studentenfutter statt Gummibärchen in sich reinstopfen.

Und ich fühle mich ertappt, weil ich so einfach Dinge verändern kann von denen ich glaubte, sie wären so wichtig. Wie eben das Nachmittagseis. Aber das war nur mir wichtig, weil ich mir ja auch ganz gerne eines *gönne* weil ich ja so schwer arbeite und mich eben auch mit Zucker belohne.

Richtig an dem Buch ist auch, dass Zucker inzwischen wirklich überall beigemischt wird und man praktisch nur eine Chance hat, indem man viele Dinge selber kocht und vorbereitet. In unserem Naturjoghurt ist Zucker, in Müslis sowieso, in Tomatensoße, in Senf, in Suppenwürfel. Das wußte ich schon, aber das macht mich immer nochmal extra wütend. Ich schmecke salzige Brühwürfel und dann ist da immer noch Zucker drin. Irgendwie gemein. Hinterhältig. Zuckerdamönen.

Überall gibt es sie und so schaffen wir es halt auf durchschnittlich 30 Kilo Zucker im Jahr.

Es hilft also wenig, seinen Kaffee ohne Zucker zu trinken, aber damit kann man ja mal anfangen. Und auch sonst so einfach mal mehr auf seinen inneren Zuckerhund zu schauen. 30 Kilo im Jahr sind auch einfach zu viel. Wie man dem entgeht ohne sich selbst zu kasteien, das macht mich schon nachdenklich. Und lässt man Zucker mal für ne Zeitlang weg, dass schmecken Datteln tatsächlich extrem süß.

Ich glaube auch wie Anastasia, dass wir Opfer der Industrie sind, die uns sagt, wir hätten keine Zeit, um Dinge selber zu machen. Wir bräuchten die Industrie mit den 1000 verschiedenen Joghurtsorten und den Fertigprodukten, weil wir sonst unser modernes Leben nicht mehr leben könnten. Dabei ist nicht Zeit das Problem, sondern nur Geduld. Ich glaube, dass wir alle wenig Zeit haben, aber wir können eine Menge Zucker weglassen, indem wir Geduld aufbringen. Einen Joghurt zu machen kostet keine 8 Stunden Zeit, aber 8 Stunden Geduld halt.

Ich denke, ich finde das Buch von der MTV Moderatorin inspirierend und dämlich zugleich. Inspirierend, weil richtige Dinge drinstehen über die man mal nachdenken könnte. Dämlich, weil Zucker nicht aus der Hölle kommt und man Kindern nicht vegan und mit Kräutersud groß bekommt.

Aber ich finde es mit Lesen dieses Buches auch folgendes seltsam und da bin ich Anastasia schon ein bisschen dankbar, dass es mir auffällt:

So ne Dokumentation lief dieser Tage im Fernsehen. Es ging um einen Magersüchtigen Teenager. Der lebt in einer Einrichtung und muss jetzt zunehmen. Er und seine Therapeuten stehen in einer bayerischen Konditorei und er muss sich was aussuchen und es essen. Das scheint irgendwie ein Therapieerfolg zu sein, dass er wieder Torten isst. Lebensfreude mit Zucker und so. Kameraschwenk auf die Kuchentheke: Bienenstich, Sahnetorte, Himbeerschnitte. Die Therapeuten spricht mit leiser Zunge zu ihm: Geh, das ist jetzt schwierig für dich, oder? er tippelt von einem Fuß auf den anderen und weint ein bisschen. Ja, sagt er, das ist schwierig.

Das Buch von Frau Zampounidis würde ihm jetzt ein wenig recht geben. Sie findet die zuckerlastige westliche Fett-Ernährung nämlich alles andere als normal und gut für unseren Körper. Sie würde jetzt ihm NICHT recht geben, denn gar nichts essen ist keine Lösung.  Aber sie fände es bestimmt unverantwortlich, dass er sich ausgerechnet an Zucker (zurück) gewöhnen muss. Vielleicht sollte man ihm eher ein paar Datteln geben und ihm Milchreis mit Honig hinstellen. Vielleicht hat er recht, wenn er sagt, er findet diese Torten ekelig. Vielleicht sollte man ihn lassen und ihm sagen, dass unser *Normal* auch nicht mehr normal ist, aber das gar nichts essen auch nicht hilft.

Ach ja, mein Samstagskaffee beschäftigt sich wieder mit den großen Fragen der modernen Götter: Du bist was du isst. Und tief in mir weiß ich, dass all diese Fragen lächerlich sind, denn es ist Luxus, gegen die Zuckerdämonen kämpfen zu können. Wir alle leben im Luxus. Wer aussuchen darf, was er zu sich nimmt, der lebt auf der Sonnenseite dieses Planeten. Und so muss ich langsam zum Schluss meines Samstagskaffees kommen und die Linsensuppe auf den Herd stellen. Es wird ja schon Mittag hier.

Fortsetzung folgt bestimmt.

 

 

3 Comments

  • Omop
    29. Oktober 2017 at 09:38

    Wir trinken Kaffee und Tee schon viele Jagre ohne Zucker und schmecken was süß ist.

    Reply
  • uli
    30. Oktober 2017 at 15:56

    Jetzt wo du es sagst, NATÜRLICH kenn ich die Anastasia 😉 hat allerdings keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Das Buch vermutlich auch nicht, obwohl ich schon sagen muss, dass ich in Zukunft bei den VIP-Jet-Set-Backstage-Catering ein bisschen mehr darauf achten werde 🙂 LG Uli

    PS ich hab jetzt ganz verzweifelt, den Beitrag von Sam gesucht… Das ganze SM-Zeug verwirrt mich.

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  • Susi
    9. November 2017 at 00:14

    Ich kenne die Dame ja nicht, aber gebe jetzt trotzdem mal meinen Senf dazu. Vor drei Jahren habe ich ein Jahr zuckerfrei gelebt. Ich hatte anfangs tatsächlich leichte Entzugserscheinungen, wie ich sie vom Weglassen des schwarzen Tees kenne. Aber das ging bald vorüber, und dann intensivierte sich meine Geschmackswahrnehmung enorm, was Süße betraf. Eine Dattel schmeckt dann fast unerträglich süß.
    Was sehr entspannend ist: beim Einkaufen kann man 3/4 des Angebotes abschreiben und sich auf günstige Basics beschränken. Ich entwickelte dann mit der Zeit einen Tunnelblick, bei dem ich die zuckerhältigen Teile des Supermarktangebotes schlicht als „nicht essbar“ einordnete.
    Ansonsten ging es mir sehr gut und als ich nach einem Jahr wieder begann, Zucker zu essen, merkte ich erst, wie heißhungrig er mich macht, wie ekelig süß viele industriell gefertigten Lebensmittel schmecken, und wie sehr plötzlich Bahn frei ist für jede Menge kalorienreichen Kram.
    Im Moment gewöhne ich mir das Zeug wieder ab, die Vorteile zuckerfreien Lebens überwiegen einfach die Nachteile.

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